31.08.2009
Oder: Wie wir die Demokratie gef***t haben.
Ein Gastbeitrag von Stefan Wedler
Bei der Lektüre eines Artikels über meine ehemalige Schule mußte ich daran denken, wie die zu ihrem heutigen Namen gekommen ist.
John-Lennon-Gymnasium.
Die hieß davor – also auch zu DDR-Zeiten schon – nämlich mal August-Bebel-Schule, und nach der Wende dann eine Weile August-Bebel-Gymnasium. Bis so etwa 1992. Die Demokratie war damals für Schüler wie Lehrer etwas neues und wurde – auf eine durchaus chaotische Weise – aber eben auch an der Schule eingeführt.
Das ging so, daß es Klassensprecher gab, die sich in der Schülervertretung versammelten. Daneben gab es eine Eltern- und eine Lehrervertretung; jedes dieser Gremien entsandte vier Abgeordnete in die Schulkonferenz, in der also jeweils vier Schüler, Lehrer und Eltern saßen und in den durch die Schule zu entscheidenden Fragen gleiche Stimmrechte innehatten.
Ich war damals Klassensprecher und Mitglied der erwähnten Schulkonferenz.
Eine der Fragen, über die die Schule selbst entscheiden konnte, war die ihres Namens. Man denkt ja vielleicht: August Bebel ist doch ok, ein altehrwürdiger Sozialdemokrat, gegen den man nichts haben kann – und es hatte auch niemand etwas gegen August Bebel. Im Gegenteil. Viele waren dafür, daß die Schule auch weiter seinen Namen trüge.
Aber es war auch die Zeit allgemeiner Veränderungen. Der Lehrkörper war ob der neuen Regeln verunsichert und die Schüler waren ob der neuen Freiheiten übermütig.
Also gab es – auch das war etwas neues – eine Projektwoche, in der die Schüler sich mit möglichen Namen für die Schule befassen und ihre Gründe dafür untermauern und die Argumente anschließend vortragen sollten. Daraufhin sollten die Schüler-, Lehrer- und Elternvertretungen jeweils für sich ihren Favoriten küren, und ihre Delegierten sollten schließlich in der Schulkonferenz über den Schulnamen abstimmen.
Es gab drei Vorschläge mit nennenswerter Unterstützung. Die Kunstlehrerin wollte Camille Claudel, die meisten wollten August Bebel und die linkslastigen Teile der Schülerschaft – wir galten nicht zu Unrecht als »Zeckenschule« – waren natürlich für John Lennon. Zum Abschluß der Projektwoche trugen die drei Fraktionen ihre Ansichten vor: Die Camille-Claudel-Befürworter erörterten das Werk der Künstlerin, die Bebel-Freunde beleuchteten sein politisches Wirken und die John-Lennon-Freunde sangen »Give Peace a Chance« auf der Bühne.
Die genauen Abstimmungsergebnisse der Eltern- und Lehrerkonferenz habe ich nicht mehr im Kopf. Ich weiß aber, daß Camille Claudel insgesamt durchfiel und es in der Schülervertretung ein Patt zwischen Bebel und Lennon gab. Es wurde beschlossen, daß von den vier Schülern in der Schulkonferenz zwei für John Lennon und zwei für August Bebel stimmen sollten.
In der betreffenden Sitzung der Schulkonferenz ging es hoch her, denn die Freunde des altehrwürdigen Namens sahen das Erbe eines großen Sozialdemokraten angegriffen, und die John-Lennon-Freunde wollten unbedingt die neue Zeit einführen. Beide Seiten liefen in der Diskussion zu großer Form auf. (Wir hatten in Geschichte und PW [»Politische Weltkunde«] mangels Unterrichtsstoff seit der Wende nichts anderes getan, als uns im Debattieren zu üben.)
Als es zur Abstimmung kam, zeichnete sich die Niederlage der John-Lennon-Fraktion ab: Es stand 7:5 für August Bebel. Lehrer- und Elternvertreter hatten nicht nach Maßgabe ihrer Gremien abgestimmt, sondern nach ihrer Privatmeinung.
Aber wir Schülervertreter waren berauscht von den neuen Möglichkeiten der Mitbestimmung. Wir wollten durchaus die Schule in »John-Lennon-Gymnasium« umbenennen. Unser Einfluß war uns wichtiger als die Demokratie, und das Votum der uns entsandt habenden Schülervertretung interessierte uns nur mäßig. Wir schnupperten Macht – nicht wir Schüler, sondern wir vier in der Schulkonferenz.
Ich behaupte, daß wir bewußt gehandelt haben, als wir begannen, irgendwann nachts um elf das Abstimmungsergebnis in Frage zu stellen – oder vielmehr die Abstimmung selbst. Und zwar mit der Begründung: Die Schülervertretung habe uns einen klaren Auftrag erteilt, wie wir abzustimmen hätten. Dem könnten wir uns nicht widersetzen. – Andrerseits aber hätten Lehrer und Eltern nach ihrer Privatmeinung abgestimmt, was man uns wegen der Gleichbehandlung nicht verweigern dürfte.
Als Lösung dieses Dilemmas propagierten wir, daß wir Schüler – offenbar die einzigen mit einem klaren Auftrag ihres Gremiums – jeder zwei Stimmen hätten, um sowohl dem Votum der Schülervertretung, als auch unserer Privatmeinung Rechnung zu tragen.
Ich weiß nicht, ob es die späte Stunde war, oder ob wir Lehrer und Eltern wirklich erfolgreich an die Wand geredet hatten – jedenfalls wurde die Abstimmung nach Mitternacht wiederholt, und diesmal hatten zwölf Leute plötzlich sechzehn Stimmen – Lehrer und Eltern jeweils eine und die Schüler jeweils zwei.
Das Blatt hatte sich gewendet, und es stand nun 9:7 für John Lennon.
Ich verstehe bis heute nicht, warum die Eltern- und Lehrervertretung sich diese absurde Begründung für den völlig abartigen Abstimmungsmodus – das genaue Gegenteil gleicher Wahlen – haben bieten lassen. Aber sie haben es geschluckt. Und wie Sie der Zeitung entnehmen können, heißt die Schule heute noch John-Lennon-Gymnasium.
Jedes mal, wenn die Schule in den Medien oder in Gesprächen erwähnt wird, muß ich an diese denkwürdige Übung in Demokratie denken. Dann lächle ich still in mich hinein und sage mir:
Das waren noch Zeiten, als die Demokratie noch ganz neu und weich und formbar war.
Herrliche Zeiten, als die Strukturen noch nicht verkrustet waren und es nichts als ein paar wortgewandte Gymnasiasten brauchte, um Erwachsenengremien zu überrumpeln und ehrwürdige Schulen nach suspekten Kiffern zu benennen.
Gast | 15:31 | mostly harmless | kulturalien | zwitschern
30.08.2009
stw | 19:39 | alsteralltag | zwitschern
28.08.2009
Wann beherrschst du eine fremde Sprache wirklich? Wenn du ein in ihr verfaßtes Behördenformular souverän ausfüllen kannst.
stw | 21:02 | wortwahl | kulturalien | zwitschern
27.08.2009
»Wann beherrschst du eine fremde Sprache wirklich? Wenn du Kreuzworträtsel in ihr lösen kannst.«
(Peter Panter*, 1932)
Ein guter und brauchbarer Satz, den man auch gut variieren – und dabei vielleicht ein wenig an jene modernen Zeiten heranführen kann, in denen man beim Thema Freizeitbeschäftigung nicht unbedingt automatisch an fremdsprachige Kreuzworträtsel denkt.
Also: Ab morgen wird variiert.
*) alias Kurt Tucholsky
stw | 12:36 | wortwahl | kulturalien | zwitschern
26.08.2009
Es ist das Schreckgespenst aller Fußballigen der Welt: Das Tor zum psychologisch ungünstigen Zeitpunkt. Doch wie viele Teams hat es tatsächlich schon ins Verderben gestürzt? Wir kommen der Floskel auf die Schliche.
Wer etwas Wichtiges vorhat, womit er jemanden beeindrucken oder sogar schockieren möchte, der sollte damit bis kurz vor der Halbzeitpause des nächsten Fußballspiels warten. Oder darauf, daß eine der Mannschaften gerade großen Druck ausübt, ohne dabei ein Tor zu erzielen. Das sind die »psychologisch günstigen Zeitpunkte«, wie Fußball-Kommentatoren nicht müde werden zu betonen, wenn in diesen Situationen ein (Gegen-)Tor fällt.
»Floskel-Check« für:
Die Leser wenden nun ein, daß dies doch wohl nur auf dem Platz und für die beteiligten Akteure gelte, was also der Unsinn solle. Wir fragen kühl zurück, ob denn die Sinndichte tatsächlich höher ist, wenn man den Geltungsbereich der Wendung auf den Fußballplatz beschränkt.
Selbst Psychologieverehrer wie den Erfinder der »Staubsaugervertretermentalität« als Erfolgsrezept für treffunsichere Stürmer beschleichen manchmal Zweifel: »Das Gegentor fiel zum psychologisch ungünstigsten Zeitpunkt«, floskelte Christoph Daum einmal, schob aber gleich nachdenklich hinterher: »Man muß an dieser Stelle auch einmal die Frage stellen, ob es Gegentore gibt, die zu einem psychologisch günstigen Zeitpunkt fallen.«
In der Tat muß man diese Frage an dieser Stelle einmal stellen. Was ist so viel besser an einem Gegentor in der 29. Minute im Vergleich zu einem in der 44.?
Die Psychologen argumentieren, ein Tor kurz vor der Halbzeit falle dem Gegner besonders aufs Gemüt, weil er keine Gelegenheit habe, unmittelbar zu reagieren, und daß er mit dem demotivierenden Gefühl in die Kabine schleiche: Das hat doch jetzt auch nicht mehr sein müssen. Das Gegenargument lautet: Ja, und?
Natürlich ist ein Tor eine Minute vor der Halbzeit nicht schön. Ein Tor 44 Minuten vor der Halbzeit ist aber auch nicht schön. Das musste gleich zu Beginn doch wirklich noch nicht sein. Und nicht nur das. Ist es denn nicht sogar noch wesentlich nachteiliger, nach einem frühen Gegentor 15 Minuten konsterniert auf dem Platz herumzualibipassen als nach einem späten Gegentor 15 Minuten konsterniert in der Kabine zu sitzen – was zwar keinen Spaß macht, aber wenigstens keinen Schaden anrichtet? Erstaunlich, daß sich im Kommentatoren-Fachkreis noch keine ernsthaft konkurrierende Denkschule durchgesetzt hat, die das ganz frühe Tor als psychologisch günstig propagiert.
Welches Minüterl hätten S' denn gern?
Man kommt der Floskel schnell auf die Schliche, wenn man den Weg, den Christoph Daum intuitiv beschritten hat, einmal weitergeht und die Gegenprobe macht. Wenn das Tor zum psychologisch günstigen Zeitpunkt fiel, wäre es dann zehn Minuten eher nicht so gut gewesen? Dann haben wir Mitte der ersten Halbzeit zwar das Tor gemacht, aber das war zu diesem Zeitpunkt psychologisch ganz ungünstig. Man wartet noch auf diesen Standpunkt.
Genauso andersherum: Wenn das Gegentor in der 45. Minute psychologisch so ungünstig war, welche Phase wäre denn psychologisch von Vorteil gewesen? Wann mögen Sie denn Ihre Gegentore am liebsten? Welches Minüterl hätten S' denn gern?
Tore sind immer schön – wenn man sie macht. Und sie sind immer ernüchternd – wenn man sie bekommt. Ganz egal wann. Nicht der Zeitpunkt ist psychologisch bedeutsam, sondern das Tor selbst. Darüber ist natürlich schlecht reden; das ist sogar den wenig zimperlichen Fußballsprechern zu banal, wahrscheinlich sogar Reinhold Beckmann.
Wer der argumentativen Kraft des Sachlichen nicht folgen mag, den überzeugt vielleicht die bezwingende Kraft des Faktischen. Im Zusammenhang mit seinem Buch »Das Lexikon der Fußballirrtümer« zitiert der Autor Roland Loy das Ergebnis einer statistischen Untersuchung: »Der Londoner Professor Peter Ayton hat anhand einer Studie zu über 350 Spielen der Premier League mit dem Halbzeitergebnis 1:0 festgestellt, dass keinerlei Zusammenhang zwischen dem Resultat am Ende des Spiels und dem Zeitpunkt des Torerfolgs besteht. Es ist also völlig egal, wann man das 1:0 erzielt.«
Nicht den blöden Zeitpunkt für das Gegentor vermeiden, sondern lieber gleich das Tor, lautet die pfiffige Devise. Das wußte sogar Thomas Häßler: »Wir wollten in Bremen kein Gegentor kassieren. Das hat auch bis zum Gegentor ganz gut geklappt.«
(Artikel für die »11 Freunde«)
stw | 18:26 | wortwahl | titelträume | zwitschern
25.08.2009
[ursprünglich: 28. März 2009]
von Ute Janssen
»Warum machst du das eigentlich?«, fragt meine Freundin Karen mich, während sie im Fernsehsessel neben mir ein Joghurt-Gum hoch in die Luft wirft, um es dann mit dem Mund wieder aufzufangen. »Gute Frage, nächste Frage«, denke ich und schiele auf die Packung mit dem süßen Weingummi.
Aber dann antworte ich doch. »Weißt du, es ist doch so«, hole ich hochwichtig aus, »wenn ich auf eine Routine verzichte, eine Alltagsgewohnheit ändere, dann entsteht Platz für etwas Neues.« – »Aha«, sagt Karen und widmet sich ungerührt weiter ihren Joghurt-Gums. Aber ich stehe zu diesem Argument. Wenn ich am Freitag nach einer anstrengenden Woche nach Hause komme, war meine Gewohnheit bisher: erstmal ein Keks, ein Stückchen Schokolade, irgendetwas Süßes. Wenn mich etwas bedrückt, mein Freund mich nicht versteht und meine beste Freundin mal wieder telefonisch nicht erreichbar ist: erstmal ein Riegel Schokolade. Nach einem guten Essen: ein süßer Nachtisch. Diese Situationen kann und muß ich jetzt neu füllen: Statt Süßes zu essen, trinke ich einen heißen Tee, mache Musik an oder gehe laufen. Und dieses Entdecken neuer Gewohnheiten tritt immer dann ein, wenn ich eine alte Gewohnheit aus meinem Tagesplan streiche.
Ich habe Erfahrung darin, für eine begrenzte Zeit auf etwas zu verzichten. Mein Freund und ich haben uns eine zeitlang darin überboten, Themen für Ohne-Wochen zu erfinden und sie gemeinsam durchzuführen: eine Woche ohne Fernsehen, eine Woche ohne Kaffee, eine Woche ohne Essen nach 18 Uhr, eine Woche ohne täglich mehr als 5 Euro auszugeben. Und das Ganze funktioniert auch »Mit«: Eine Woche mit jeden Tag Sport treiben, eine Woche mit jeden Tag gemeinsam kochen, eine Woche mit jeden Tag ein neues Fremdwort lernen.
Das Ergebnis ist immer ähnlich: Auf einmal hat man die Chance zu bemerken, wie wichtig einem z.B. die Castingshow ist, von der man immer vorgibt, rein zufällig hineingezappt zu haben. Aber auch: Wie gut sich der Magen anfühlt, wenn er morgens als erstes Kamillen-Tee statt Kaffee bekommt. Wie schwierig es ist, eine gesamte Woche sparsam zu leben, und wieviel Geld man einfach so und ganz nebenbei ausgibt. Was für ein schönes Gefühl es ist, jeden Tag etwas Neues zu lernen. Gewohnheiten aufzubrechen bietet Raum, sich selbst besser kennenzulernen und Alternativen zu entdecken. Ein bißchen ist es, als würde man aus seinem eigenen Leben treten und für eine kurze Zeit ein anderes ausprobieren. Und: Ohne-Wochen, gemeinsam durchgeführt, verbinden, fordern die Phantasie und bieten jede Menge Gesprächsstoff.
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Gast | 16:51 | mostly harmless | zwitschern
24.08.2009
stw | 21:33 | zwitschern
23.08.2009
Vorab: Es ist kein schlechtes Buch. »Das Geheimnis der Sarah Canary« ist eine interessante Geschichte, die schön aufgeschrieben ist – und doch müssen wir reden.
Es geht um die kuriose Eigenart der Autorin Karen Joy Fowler (oder der Übersetzerin Uda Strätling)1, das Wort »sagen« sehr hartnäckig immer genau dann zu vermeiden, wenn jemand etwas sagt: Sobald eine Figur sich in wörtlicher Rede ins Geschehen mischt, kann man sicher sein, daß sie vielleicht etwas meint oder findet oder bemerkt oder etwas zu bedenken gibt oder erklärt oder jemandem etwas eröffnet oder sich sonst irgendwie äußert – aber niemals etwas sagt.
Fast niemals. Dies sind die Redebeschreibungen aus den ersten beiden Kapiteln, die unmittelbar eine Äußerung einleiten oder abschließen:
hatte versichert ...
(... und hinzugefügt)
eröffnete
spekulierte
fand
mahnte
befahl
mäkelte
rief
erklärte
gab zu bedenken
wollte glauben machen
sagten
beschwichtigte
warf ein
verriet
gab zu bedenken
hielt entgegen
meinte
teilte mit
sagte2
versuchte
herrschte an
drängte
flehte an
schrie
bat
wiederholte
erklärte
schimpfte
meinte
rief
meinte
stellte vor
bemerkte
versuchte zu erklären
versicherte
meinte
|
rief
verkündete
plapperte nach
befahl
sagte
spottete
drohte
überlegte
sagte
beteuerte
bemerkte
fragte
eröffnete
erklärte
sagte
fuhr fort
gab zu bedenken
erklärte
bestätigte
fragte
meinte
fügte hinzu
erinnerte
versicherte
stimmte zu
willigte ein
begann
wandte ein
räumte ein
sagte
meinte
verlangte
gab zu
sagte
stimmte zu
fragte
fragte
|
erwiderte
bat
sinnierte
warf vor
versicherte
rief
sagte
schärfte ein
sagte
grüßte
fiel ein
sagte
stellte vor
bestätigte
teilte mit
gab zu
fragte
ergänzte
stellte richtig
stellte fest
sagte
teilte mit
bemerkte
beteuerte
sagte
rief
teilte mit
tönte
verkündete
sagte
meinte
versicherte
befahl
rief
raunte
eröffnete
sagte
|
Erschütternd. 111-mal wird gesagt, daß jemand etwas sagt, und ganze 14-mal sagt jemand etwas. Das (also: nichts zu sagen) ist dann in Ordnung, wenn es um die Art der Artikulation geht, also jemand schreit oder flüstert. Nicht in Ordnung ist es in fast allen anderen Fällen. Offenbar glaubt Karen Joy Fowler (oder Uda Strätling), »sagen« sei zu banal und zu einfalls- und phantasielos. Leider stimmt das ungefähr überhaupt nicht. Man hat in einer Geschichte sehr viele Gelegenheiten, Kreativität und Wortschatz auszuloten; an dieser Stelle sollte man es lassen. »Sagen« ist großartig.
Gutes Argument eins
Abgesehen von den erwähnten Artikulationsbeschreibungen (»rief«, »flüsterte«) haben Erläuterungen der wörtlichen Rede nicht zuletzt einen Zweck: deutlich zu machen, wer gerade etwas sagt. Im Verlauf langer Dialoge oder bei zahlreichen Unterbrechungen und Wiederaufnahmen der Rede geht schon mal der Überblick verloren. Das »sagen« dient einfach dazu, den Namen des Sprechers flüssig einzubinden. Je unauffälliger, desto flüssiger. Und unauffällig ist das banale, vertraute »sagen«; man erfaßt es sofort und weiß, wer dran ist; nichts stört den Lesefluß. Unvertraute Synonyme halten auf – und bringen nichts. Außer Ärger.
Gutes Argument zwei
Denn Leser denken. Wenn eine Figur sagt: »Komm' sofort her!«, dann erkennen sie den Imperativ und das Ausrufezeichen und denken bei sich: ein Befehl. Steht da nun weiter: »... befahl Erwin«, dann wundern sie sich, denn sie wußten es schon. Sie ärgern sich, daß der Autor es für nötig hält, ihnen das noch einmal erklären zu müssen. Auch in weniger offensichtlichen Fällen vermittelt sich sehr vieles über die (subtilere) Wortwahl und/oder über den Kontext. Szenen und Bilder und Situationen wirken viel stärker, wenn sie im Kopf entstehen, als wenn sie ständig erklärt werden. So stellt sich schnell der Verdacht ein, der Autor traue seinem eigenen Text nicht – oder den Lesern. Unschön ist beides.
Natürlich kann eine solche Dopplung (eine Art Prosa-Pleonasmus) gelegentlich auch bewußt und als Verstärker eingesetzt sein. Nichts spricht dagegen. Ärgerlich ist sie dann, wenn sie die Regel ist.
Gutes Argument drei
Aber beschreiben viele Verben das Redegeschehen nicht viel plastischer als »sagen« es kann? Machen sie den Text nicht lebendiger – bringen also sehr wohl etwas? Nein, tun sie nicht. Im Gegenteil: Sie sind schwache Zusammenfassungen dessen, was einen Text lebendig macht. Die Faustregel »Lieber beschreiben als benennen« gilt an dieser Stelle wie überall sonst.
»Sie war wütend.« Das ist kurz und klar und treffend – aber nicht annähernd so stark wie eine die Beschreibung einer Frau mit leicht zuckenden Wangen, starrem Blick und die Stuhllehne umklammernden Händen und weißwerdenden Fingerknöcheln.
»... mahnte er.« Das ist kurz und klar und treffend – aber nicht annähernd so stark wie ein simples »sagen« und (zum Beispiel) eine gut beschriebene kleine Geste. Lieber beschreiben als benennen.
*
Im Einzelfall, gerade bei Beispielen wie in den Argumenten zwei und drei, kann man natürlich immer diskutieren; vieles ist dann Geschmackssache. Klar ist: Nicht jedes Nicht»sagen« stört den Lesefluß, verkauft die Leser für dumm und raubt dem Text die Atmosphäre. Aber sehr viele eben doch. Je öfter sie auftauchen, desto mehr verstärken sich in ihrer negativen Wirkung gegenseitig; auch ein eigentlich harmloses oder sogar gutes Synonym wirkt inmitten der konstruierten und nervigen dann auch nur noch konstruiert und nervig.
Immer und überall schlecht aber sind »sagen«-Synonyme, die nichts anderes als andere Wörter sind: eröffnen, mitteilen, finden, (sich) erklären, meinen, verkünden, etc. Jedes kann man durch »sagen« ersetzen, und kein einziges Mal würde der Text dadurch schlechter, aber fast jedes einzelne Mal besser.
Daß dem durchaus so ist, zeigen zwei ziemlich willkürlich (!) dem Regal entnommene Beispiele; es wurde einzig darauf geachtet, zwischen anerkannt schreibbegabten Menschen zu wählen. In den ersten beiden Kapiteln von Ian McEwans »Abbitte« wird folgendermaßen wörtlich geredet:
sagte3
rief zu
sagte
erklärte
fragte
verkündete4
fragte
|
gab klein bei
verkündete
sagte
erwiderte
antwortete
meinte
sagte
meinte
sagte
flötete
|
sagte
erklärte
sagte
sagte
sagte
sagte
erwiderte
sagte
sagte
|
Wir sehen: Sehr viel hatte man dort noch nicht zu besprechen, aber wenn, dann »sagte« man im Schnitt fast jedes zweite Mal etwas; insgesamt nicht viel seltener als bei den ungleich häufigeren Gelegenheiten in »Sarah Canary«.
Mehr zu bereden hat man von Beginn an im »Schloß« von Franz Kafka, dessen erstes Kapitel auch wesentlich länger ist als jene in den beiden anderen Büchern, weshalb das zweite nicht mit aufgeführt wird.
sagte
sagte
sagte
fragte
fragte
sagte
fragte
sagte
rief
fragte
rief
sagte
hörte fragen
sagte
schrie
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
fragte
sagte
sagte
sagte
flüsterte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
|
sagte
fragte
sagte
fragte
fragte
wiederholte
sagte
fragte
sagte
fragte
sagte
fügte hinzu
holte daraus das Recht zu fragen
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
rief
sagte
sagte
fragte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
fragte
sagte
rief
sagte
|
sagte
sagte
rief
rief
rief
schrie
hörte sagen
sagte
fragte
sagte
sagte
wendete ein
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
sagte
fragte
wiederholte
rief
rief
fragte
|
Sagen, sagen, sagen. Auch sehr dicht hintereinander gelegentlich; man sagt etwas, und kaum daß eine neue Zeile begonnen hat, wird schon wieder gesagt. Über Franz Kafka wiederum kann man gewiß vieles sagen – daß er phantasie- und einfallslos, oder einfach ein schlechter Autor gewesen sei, sicher nicht.
Eines aber kann man sehr wohl sagen: Sagen ist gut.
1) Ob das im englischen Original ebenso ist oder eine Idee der Übersetzerin war, lassen wir der Bequemlichkeit halber außen vor, da es für die Angelegenheit als solche ohnehin keine Rolle spielt.
2) nicht im Zusammenhang mit wörtlicher, sondern indirekter Rede in einer Rückblende
3) auch eher indirekte Rede
4) nicht unmittelbar, sondern erst im nächsten Satz
stw | 19:22 | wortwahl | kulturalien | zwitschern
22.08.2009
Da sind wir wieder. Wie Phoenix aus der Asche, wie Oliver Kahn an der Eckfahne. Ziemlich gravierende technische Probleme bei gleichzeitig zu dünner Personaldecke waren es, die zu der längeren Pause führten. Immer noch ist das System weit davon entfernt, wieder perfekt zu funktionieren, aber es läuft. Unschöne größere Ausnahme: die Kommentarfunktion. Enthusiasmierte Kurzprosa von Publikumsseite muß daher vorerst unterbleiben.
Auch unschön: Die Einträge und Kommentare zwischen der letzten auffindbaren Sicherung und dem Unfall sind verlorengegangen. Darunter wunderschöne von wunderschönen Gästen. Diese (und andere) möchten und werden wir daher noch einmal vorstellen – sofern sie anderweitig noch vorliegen. Und ganz neue Dinge natürlich auch.
Salve!
Nachtrag 24. August: Auch die Kommentarfunktion geht wieder. So: Don't curb your enthusiasm!
Administrarius | 12:35 | zwitschern
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