05.06.2010

Rudelgucken

Gefällt mir! Das möchte ich ...

Hahaha. Ich möchte ja wirklich mal wissen, was sich ein Engländer oder Amerikaner denkt, wenn hier jetzt alle wieder zum »Public Viewing« gehen. Hast Du gewußt, daß im Englischen eigentlich nur öffentliche Totenschauen damit gemeint sind? Und hier denken alle, sie sprächen so weltgewandt, dabei ist das doch total bizarr!

So ungefähr klingt es, wenn die nun auch im Nachbarbüro (und anderswo) angekommene These vertreten wird, englische Muttersprachler würden aus dem genannten Grund entweder zusammenzucken oder sich schlapplachen, wenn irgendwo in der nicht-englischsprachigen Welt Menschen zum »Public Viewing« beliebter Ereignisse sich versammeln. Das Wort »Pseudoanglizismus« fällt.

Eigentlich wurde dazu vor ziemlich genau zwei Jahren im Bremer Sprachblog* schon alles gesagt:

Interessant an dieser Meldung ist aber die Behauptung, der Begriff Public Viewing sei ein "Scheinanglizismus" mit dem englische Muttersprachler "die öffentliche Aufbahrung von Toten" bezeichneten. Diese Interpretation des Begriffs ist mir zwar vertraut, aber es ist nicht unbedingt die erste, und mit Sicherheit nicht die einzige Bedeutung, die mir in den Sinn kommt. Viel häufiger ist im englischen Sprachraum die Bedeutung "Akteneinsicht durch die Öffentlichkeit", aber auch jede andere Art von Ereignis, bei der es öffentlich etwas zu sehen gibt, kann im Englischen mit public viewing bezeichnet werden – etwa öffentliche Theater- und Filmvorführungen, Vorführungen in Sternwarten, Kunstausstellungen, und natürlich auch die Übertragung von Fußballspielen auf Großbildleinwänden.

Nun ist das Ärgerliche ja nicht, daß jemand Dinge behauptet, obwohl es schon vor zwei Jahren im Bremer Sprachblog ganz anders stand. Nicht jeder liest das Bremer Sprachblog; viele wissen nicht einmal, was Blogs sind. Manche kennen noch nicht einmal Bremen. Außerdem ist natürlich das Zitierte zunächst auch nur eine Behauptung, und man muß selbst Sprachwissenschaftlern, die über Sprache reden, nicht automatisch alles glauben.

Nein, ärgerlich daran ist, daß man kuriose Thesen verbreitet, obwohl es so himmelschreiend leicht ist, sich binnen weniger Sekunden selbst und ganz allein vom Gegenteil zu überzeugen. Man muß noch nicht einmal richtig googeln. Es genügt schon, den Begriff in die Suchmaske einzugeben, um sich anhand der erscheinenden Suchvorschläge zumindest einen ersten Überblick über populäre Verwendungen zu verschaffen.

Zum Beispiel bei der britischen Google-Variante:

Suchvorschläge für »public viewing«

Ein einziger dieser Vorschläge, der letzte, hat unmittelbar etwas mit der Bedeutung »öffentliche Aufbahrung eines Toten« zu tun: Der Musiker Teddy Pendergrass starb Anfang dieses Jahres, und da sechs Platin-Alben in der Regel weder zur Anonymität noch zur Unbeliebtheit beitragen, gab es sicher viele Menschen, die beim public viewing noch einmal einen letzten Blick auf den Mann werfen wollten. Das schlägt sich auch in den Suchanfragen nieder, sei es, daß man vor Ort dabeisein möchte, sei es, daß man nach Fotos von dem Ereignis sucht.

Genauso hat das Erscheinen der darüber genannten Vorschläge seine Gründe. Viele gute Gründe. Der Grund allerdings, als nativ Englischsprachiger kenne man public viewing ausschließlich als öffentliche Leichenschau, dürfte wohl nicht darunter sein. Wenn man davon ausgeht, daß Google für diese Vorschläge die Häufigkeit bisheriger Suchanfragen und die Anzahl der jeweils zu erwartenden Ergebnisse zugrundelegt, scheint die Verwendung des Begriffs für leichnamfreie Situationen auch im englischen Sprachraum alles andere als unüblich zu sein. Ein ähnliches Bild liefert das amerikanische Google:

Suchvorschläge für »public viewing«

Erste Indizien sind natürlich nur erste Indizien, und das muß ja alles nichts heißen. Allerdings ist es keineswegs eine Vermessenheit, zu behaupten, daß auch durch tatsächliches Absenden der Suchanfrage die zuvor erwähnten wenigen Sekunden nicht überschritten werden, die ausreichen, den Sachverhalt doch einmal zu prüfen. Man erfährt Erstaunliches. Von überall auf der Welt:

»Spectators cheer during the public viewing of the performance of German singer Lena Meyer-Landrut at the Eurovision Song Contests in Hanover, northern Germany on May 29, 2010.«
(Kanada)

*

»That will continue over the next 12 weeks with public viewing of the designs available on Wednesday, 30 June at the new Marine Skills Centre at the Nautical College, and Buchanan Galleries shopping centre on Thursday, 1 July with opportunities for the public to give feedback and comment on the plans before they are submitted.«
(Schottland)

*

»The public viewing of the house is a part of the exhibition, Hendrix in Britain, which showcases handwritten lyrics, clothing, and other Hendrix paraphernalia.«
(USA)

*

»To ensure that people from KwaZulu-Natal are able to enjoy the World Cup, the provincial government has spent at least R80 million on public viewing areas (PVAs).«
(Südafrika)

*

»Just to let everyone know, public viewing nights are held every first Friday of the month. Clear or cloudy nights the public viewing night goes ahead.«
(Australien)

*

»A major piece of Canadian history is available for public viewing in Thunder Bay starting today.«
(Kanada)

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»First public viewing of Halo 3: ODST«
(England)

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Auch das muß man natürlich alles nicht glauben. Auch weiterhin kann man sich an seinem Sprachfundstück erfreuen und auf die blöden Anderen deuten.

Das entscheidet jeder selbst.


*) Inzwischen unter neuer Adresse: das Sprachlog


Nachtrag 8. Juni: Für »11 Freunde« noch mal ein bißchen umgemodelt.

Nachtrag 14. Juni: Der oben zitierte Anatol Stefanowitsch greift das Thema auch noch (zwei-)mal auf.

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