Eine Art Schlüsselerlebnis
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Endlich nach Hause. Ich bin der letzte, der geht. Draußen regnet es einen weichen, leichten Regen, gar nicht unangenehm, trotzdem freue ich mich, daß der Stadtbus gerade kommt. Herinnen der Schock: Zeitung im Büro vergessen. Och nö. Ich habe noch andere Drucksachen dabei, klar, aber ich wollte jetzt Zeitung lesen. Kackmist. Daß mir das so aufs Gemüt fällt, zeigt wieder, daß ich eindeutig nicht zu den Globalisierungsverlierern gehöre. Grenzüberschreitend gedacht. Die haben andere Sorgen. Oder ärgern die sich auch über sowas? Und man merkt es nur nicht, weil sie als Globalisierungsverlierer ja nicht lesen können und deshalb gar keine Zeitung haben.
Am Jungfernstieg gute Nachrichten, die Bahn nach Hause kommt in wenigen Minuten. Ich schlendere den langen Steig entlang, bis ganz nach vorne. Das mit der Zeitung ärgert mich. Ein Blick auf den Anzeigekasten. Noch eine Minute. Und exakt in diesem Moment durchzuckt mich buchstäblich aus dem Nichts der Gedanke: Du hast nicht abgeschlossen. Du hast das Büro nicht abgeschlossen.
Oder? In den Sekunden nach dem ersten Schreck, in denen sich solche tagtraumartigen, absurden Gedanken als absurde Tagträume entpuppen, wird mir klar: Das hier stimmt. Ich bin mir ziemlich sicher. Auf jeden Fall habe ich die Alarmanlage, die erst richtig abriegelt, vergessen einzuschalten. Nicht, daß mit nächtlichen Einstiegen zu rechnen sei, sehr wohl aber mit dem Eingreifen der Sicherheitsfirma, die in solchen Fällen irgendwann nachsieht, warum die Anlage nicht aktiviert und ob alles suutje ist – und das hübsch in Rechnung stellt.
Während ich den langen Bahnsteig – schneller als zuvor – wieder zurückgehe, der einfahrenden Bahn entgegen, versuche ich mich an den entscheidenden Augenblick zu erinnern. Tür auf, Jacke zu, gegangen. Oder doch anders? Mann! Schon fünf Minuten Fußrückweg hätten mich jetzt genervt, ich aber muß zurück ans andere Ende der Welt, gefühlsmäßig. Muß ich das? Ich schließe doch immer ab, wenn ich Letzter bin; vielleicht fehlt mir nur die konkrete Erinnerung, weil es viel zu selbstverständlich ist. Aber wie komme ich dann darauf?
Die Busfahrt zurück dauert dreimal so lange. Glaube ich. Ich konstatiere eine gewisse Selbstgerechtigkeit bei mir: Noch wenige Tage zuvor ärgerte ich mich darüber, einen Bus verpaßt zu haben, weil der zu früh abfuhr; jetzt geht mir der Fahrer auf den Keks, weil er an jeder verödeten Haltestelle brav auf den Termin wartet. Angemessener erschiene mir, er führe durch, zügig. Besänftigend immerhin der Gedanke, jetzt wenigstens doch an die Zeitung zu kommen.
Im Grunde aber ist das alles zweitrangig. Was mich wirklich beschäftigt, ist: Bin ich vielleicht verrückt? Bin ich verrückt, daß ich mir so nachdrücklich einbilde, eine fast automatisch ablaufende Handlung vergessen zu haben; bin ich verrückt, daß ich mich im Geiste an der Anlage achtlos vorübergehen sehe, wo ich doch bisher nie achtlos daran vorüberging? Oder verfüge ich meinerseits über ein gesundes inneres Alarmsystem? Oder – noch beunruhigender vielleicht als simple Verrücktheit – konnte ich tief drinnen das mit der Zeitung einfach nicht einsehen und lasse mich nun unter diesem Vorwand von mir selbst zurücktreiben? Ich verwerfe das sofort als abwegig. Vorsichtshalber.
Es regnet immer noch, immer noch diesen weichen Regen, als ich über Laub und kleine Pfützen zum Büro gehe. Die Spannung treibt und bremst gleichzeitig. In der Hand fühle ich den Schlüssel; es hat etwas märchenhaftes: Er wird Dir die Antwort offenbaren. Harmloser, aber doch mit fragwürdiger Psyche ausgestatteter Paranoiker, oder doch ein bei aller Schusseligkeit geistig hellwacher Intuitivmnemiker? Wie bei Schrödingers Katze. Tot oder lebendig, völlig irre oder sehr aufmerksam? Man weiß es nicht, erst, wenn man nachguckt.
Ich nehme die wenigen Stufen hoch zur Eingangstür. Langsam führe ich den Schlüssel ins Schloß und drehe ihn vorsichtig. Er kreist einmal um die Achse. Normal zugesperrt hatte ich also. Wenigstens die Grundlagen sitzen. Jetzt die Alarmanlage. Wenn ich sie betätige, müßten nun die üblichen Aktivierungsgeräusche tönen, weil sie ja noch gar nicht eingeschaltet war. Wenn ich recht habe.
Ich betätige.
Scharfstellgeräusche. Puh. Nicht verrückt. Nicht irre. Nicht paranoid. Nicht heute abend jedenfalls. Ich schalte sie noch einmal ab und hole mir die Zeitung. Dann schalte ich sie wieder ein, bewußt wie selten.
Der nächste Bus fährt mir so ziemlich vor der Nase weg; vorhin hätte ich mich mehr darüber geärgert. Ich laufe zum Bahnhof. Es regnet immer noch. Weicher, leichter Regen. Gar nicht unangenehm. Mit der Zeitung unter der Jacke geht’s jetzt: endlich nach Hause.
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